Estnisch (Eigenbezeichnung: eesti keel) ist eine agglutinierende Sprache und gehört zur Gruppe der Finnisch – Ugrischen Sprachen. Es ist entfernt mit dem Ungarischen und eng mit dem Finnischen verwandt. Man unterscheidet drei Hauptdialekte: Nordestnisch (gesprochen in Tallinn sowie in weiten Teilen Estlands), Südestnisch (südlich von Tartu, Dorpat) und der Nordostküstendialekt (östlich von Tallinn entlang der Küste bis zur Grenzstadt Narva).
Verbreitung:
Aussprache
In estnischen Wörtern wird grundsätzlich die erste Silbe betont. Es gibt aber wie in jeder Sprache Ausnahmen (z.B. aitäh!, danke!).
Das “õ” stammt wohl aus dem Russischen, dafür spricht seine größere Häufigkeit in den südlichen Dialekten und sein Fehlen auf Saaremaa. Genauer gesagt handelte es sich um ein leicht abgewandeltes “ы”, das ziemlich tief in der Kehle gebildet wird und in etwa so klingt wie das um Bewusstsein ringende “Öh” in “Öh, muss das sein?” oder “Öh, weiß nicht…”
Ähnlich wie einige romanische Sprachen (Spanisch, Französisch) mag das Estnische das “st” am Wortanfang nicht, aber anstatt ein “e” davor zu stellen oder das “s” durch ein “e” zu ersetzen, fällt das “s” im Estnischen einfach weg.
Beispiele. tool (ndd. Stohl), tikk (eng. stick), tudeng (Student), torm (ndd. Storm).
Ähnliche Voreingenommenheit zeigt das Estnische auch gegen “b”, “d” und “g” am Wortanfang, welche zu “p”, “t” und “k” werden.
Beispiele. pruukima (ndd. bruken), püksid (ndd. Büx), piljard (Billiard), kips (Gips).
Außer diesen Einschränkungen am Wortanfang wurde früher noch das “f” in ein “hv” (gesprochen: chw) umgewandelt. Zeugnis davon geben beispielsweise “krahv” (Graf) und “kohv” (eng. coffee). Glücklicherweise hat sich die Existenz von Delphinen aber erst relativ spät in Estland rumgesprochen, denn sonst hieße es jetzt nicht “delfiin” sondern “telhviin”.
Daneben gibt es auch noch “freiere” Adaptionen, so z.B. “rand” (Strand), “särk” (eng. shirt) und “torn” (Turm).
Grammatik
Das Estnische kennt keine grammatischen Geschlechter. In der dritten Person wird tema (Kurzform: ta) verwendet, expressis verbis: “er” und “sie” werden nicht unterschieden.
Eine wahre Grausamkeit der estnische Sprache, jedenfalls für deutsche Muttersprachler, ist ihre Art zu verneinen. Wie es so schön in dem herangezogenen Artikel heißt: “Für die Negation kommt es auf den Inhalt der Aussage an. Sprachlich kann der Inhalt unterschiedlich realisiert werden […]” Gemeint ist damit im Falle des Estnischen, dass eine Verneinung von Begriffen unmöglich ist und nur ganze Sätze verneint werden können. Estnisch ist eine Aussagen verneinende Sprache, Deutsch eine Begriffe verneinende. Um das etwas zu klarer werden zu lassen, im Deutschen ist es möglich zu jedem Begriff, als Beispiele seien hier “schwarz”, “interessieren” und “Bär” genannt, einen komplementären Begriff zu bilden, hier also “nicht-schwarz”, “nicht-interessieren” und “nicht-Bär”, wobei allerdings im letzteren Falle “kein-Bär” verwendet wird. “nicht-schwarz” könnte z.B. auch “lichtern” heißen. Die Annahme, dass “nicht-schwarz” nur in einem Satzganzen eine Bedeutung hätte, ist also falsch. “nicht-interessieren” besitzt sogar schon in “ignorieren” eine ziemlich genaue Entsprechung. Allerdings muss man bei der Verwendung von “kein” unterscheiden, ob “Bär” als Prädikat gebraucht wird oder nicht, denn nur wenn das der Fall ist, kann man einen sinnvollen komplementären Begriff bilden, also z.B. in der Aussage “Flipper ist kein-Bär.” Falls “Ein Bär” hingegen das Subjekt des Satzes ist, so muss man sich ein “Es gibt” zum Satz hinzudenken und dann das “geben” begriffsnegieren.
Beispiel. Ein Bär ist über die Straße gelaufen. <=> Es gibt einen Bären, der über die Straße gelaufen ist. Nun wird “geben” verneint. Es nicht-gibt einen Bären, der über die Straße gelaufen ist. <=> Kein Bär ist über die Straße gelaufen.
Im Estnischen gibt es kein Wort und auch keine Vorstellung von “kein”. Es gibt zwar ein Wort für “nicht” (mitte), das dient aber traditionell nur der doppelten Verneinung, und wenngleich diese Praxis heutzutage langsam verschwindet, kann man “mitte” doch in keinem anderen Sinne verwenden, weshalb es im Estnischen kaum mehr gebraucht wird und wenn, dann in unvollständigen Sätzen wie “Mitte nii!” (Nicht so!)
Härter als das effektive Fehlen von “nicht” trifft einen freilich das Fehlen von “kein”. Anstatt “Das interessiert doch keinen!” muss es also “Das interessiert doch irgendeinen: falsch!” heißen, wobei das “falsch” in Form eines “ei” im Estnischen allerdings an das Verb gebunden wird, was den deutschen Muttersprachler gefahrlaufen lässt den Satz als “Das interessiert doch irgendeinen nicht.” misszuverstehen: In der ersten Variante interessiert es keinen, während es in der zweiten nur irgendeinen geben muss, den es nicht interessiert. Ähnlich schlimm ist um Aussagen wie “Das gibt es nirgendwo!” und “Sowas passiert nie!” bestellt. Die Näherungen müssen hier aber wohl nicht mehr ausgeführt werden.
Eine weitere Besonderheit der Verneinung im Estnischen ist die Verwendung des Verbstammes anstatt der finiten Formen, es heißt zum Beispiel schlicht “Ei saa!” (wörtlich: Nicht können unter den gegebenen Umständen), wobei es völlig unklar ist, wer da etwas nicht kann unter den gegebenen Umständen. Das gibt es im Deutschen in Form von “Geht nicht!” zwar auch, im Estnischen ist dieser Stand der Dinge aber allen Verneinungen gemein.